Die Massai-Vermutung
Eine fast wahre Geschichte
Nach einer alten Überlieferung der ostafrikanischen Massai hat ihnen ihr Gott Engai in grauer Vorzeit alle Rinder der Welt überlassen, woraus für die Massai messerscharf folgt, dass jeder andere Rinderbesitzer ein Viehdieb sein muss. Daraus leiten die Massai das Recht ab, diese Rinder bei ihren Nachbarn einzusammeln und in die eigene Herde aufzunehmen. Bedauerlicherweise teilen die Nachbarn diesen Rechtstandpunkt jedoch nicht und so kommt es immer wieder zu Konflikten, die das Leben für alle Beteiligten nicht einfacher machen.
Ein junger Massai, der Schule und Universität besucht und gerade in Europa ein Jura-Studium erfolgreich abgeschlossen hatte, empfand diese Situation als ausgesprochen unbefriedigend und beschloss, seinem Volk mit seinem juristischen Know How beizustehen, um die ständigen Streitereien zu beenden.
Er beantragte beim Obersten Gerichtshof von Tansania, in die Rechtssprechung eine „Massai-Vermutung“ aufzunehmen, wonach grundsätzlich davon auszugehen sei, dass ein Rind, wo auch immer auf der Welt es aufgefunden würde, als Massai-Besitz zu betrachten sei. Der jeweilige Halter des Rindes sei damit verpflichtet, das Rind herauszurücken oder zumindest an die Massai eine Nutzungsgebühr zu zahlen.
Die Richter am Obersten Gerichtshof vermochten allerdings dieser Logik nicht zu folgen. Natürlich könnten die Massai die Herausgabe von Rindern verlangen, wenn sie den Eindruck hätten, bestohlen worden zu sein. Doch dafür müssten sie stichhaltige Beweise vorlegen, dass ihnen die fremden Rinder wirklich gehören. Die geforderte pauschale Regelung, wonach jedes Rind auf einer anderen Weide bis zum Beweis des Gegenteils als gestohlen anzusehen sei, sei mit einer modernen Rechtssprechung nicht vereinbar. Ein solche „Umkehr der Beweislast“ sei ein juristisches Unding.
Der junge Massai, der sich in Europa auch mit dem deutschen Urheberrecht beschäftigt hatte, entgegnete, dass sich das Hohe Haus da bedauerlicherweise irre und in der deutschen Rechtssprechung eine solche „Umkehr der Beweislast“ durchaus üblich sei. Es gäbe da nämlich einen deutschen Verein, der sehr erfolgreich die Interessen von Musikbesitzern vertrete. Und der habe in der deutschen Rechtssprechung eine Regelung durchgesetzt, die ein juristisches Vorbild sein könne für die geforderte „Massai-Vermutung“. In Deutschland müsse nämlich jeder, der Musik bei sich führe oder irgendwie nutze, an diesen Verein namens Gema dafür eine Gebühr zahlen. Und wenn er das nicht wolle, müsse er beweisen, dass er diese Musik nicht gestohlen habe. Man nenne das dort die „Gema-Vermutung“. Das und nichts anderes fordere er auch für die Massai-Rinder, um endlich Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zu erreichen und um den ständigen Streitereien ein Ende zu bereiten.
Das Gericht war beeindruckt und zog sich zu einer langen Beratung zurück. Nach mehreren Stunden verkündete es seinen Beschluss:
eine Massai-Vermutung werde es in Tansania trotz der interessanten Argumente des Antragstellers nicht geben. Denn Musik und Rinder – das seien zwei sehr unterschiedliche Dinge. Zum einen könne man Musik nicht anfassen. Ausserdem sei bei der Musik die Reproduktion sehr viel leichter und schneller zu bewerkstelligen als bei Rindern. Und schliesslich könne man Musik nicht melken. Zu Melken seien allenfalls die Musiknutzer, doch das gehe das Hohe Gericht ja wirklich nichts an.
BK Feb. 2013